M. Leuenberger u.a.: Geprägt fürs Leben

Cover
Titel
Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Leuenberger, Marco; Seglias, Loretta
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
418 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michèle Hofmann, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz

Marco Leuenberger und Loretta Seglias nehmen sich in der vorliegenden Arbeit einem Thema an, das in den vergangenen Jahren auf grosses öffentliches Interesse gestossen ist und nun vermehrt auch wissenschaftlich untersucht wird: dem Aufwachsen von Kindern in (ländlicher) Familienpflege in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Die öffentliche Diskussion zum Schicksal fremdplatzierter Kinder – oftmals pauschal als «Verdingkinder» bezeichnet – führte dazu, dass im April 2014 eine Initiative eingereicht wurde, die eine «Wiedergutmachung für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» fordert. 1

Leuenberger und Seglias rücken die «Sicht der Betroffenen» in den Mittelpunkt ihrer Studie: Von zentraler Bedeutung sind narrative Interviews mit ehemals fremdplatzierten Personen; aufgrund dieser Selbstzeugnisse sollen «Innenansichten in die Fremdplatzierung gewonnen werden, die in dieser Form durch keine andere Quellengattung überliefert sind» (S. 13). Damit schliesst die Untersuchung an eine Entwicklung an, die sich in jüngster Zeit in verschiedenen Forschungsfeldern beobachten lässt. Exemplarisch sei auf die Disability History verwiesen, in der beeinträchtige Menschen als Handelnde und Subjekte der Geschichte anstatt nur als Behandelte betrachtet werden. 2

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert. In der Einleitung legen Leuenberger und Seglias ihr Erkenntnisinteresse, den Forschungsstand, die Quellengrundlage und den Aufbau der Arbeit dar. In den folgenden drei Kapiteln stehen die «Lebenswelten» von sieben ehemals fremdplatzierten Menschen im Zentrum. Mit dem «Konzept der Lebenswelten» verfolgen Leuenberger und Seglias «das Ziel, das Wechselverhältnis zwischen Strukturen und Individuen zu untersuchen» (S. 14). Dieses Wechselverhältnis soll dadurch fassbar werden, dass dem «individuellen Erleben von Betroffenen», wie es aus den Interviews hervorgeht, «die Ereignisse gegenübergestellt [werden], wie sie sich aus den amtlichen und gedruckten Quellen erschliessen lassen» (S. 15). Die Struktur dieser drei Kapitel, die den Hauptteil des Buches ausmachen, ist dem Verfahren der Sequenzanalyse geschuldet. Dieses methodische Verfahren, das «eine grösstmögliche Unvoreingenommenheit» bei der Quellenanalyse ermöglichen soll (S. 18), hat zur Folge, dass jeweils zuerst die einzelnen Lebensgeschichten präsentiert werden und anschliessend auf verschiedene kontextuelle Faktoren wie zum Beispiel die Finanzierung von Fremdplatzierungen oder die Entwicklung rechtlicher Normen eingegangen wird. Ein solches Vorgehen ist für eine historische Arbeit zumindest gewöhnungsbedürftig. Die Interviews, die mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt wurden, gewähren zwar tiefe Einblicke in das Thema Fremdplatzierung, wie sie keine andere Quelle ermöglichen würde. Leuenberger und Seglias schöpfen aber das Potenzial, das sich hier bietet, nur bedingt aus. Es wäre wünschenswert, dass sowohl zwischen den verschiedenen Lebensgeschichten und als auch zwischen den Lebensgeschichten und den Kontextinformationen stärkere Bezüge hergestellt würden – wie dies etwa Tanja Rietmann in ihrer Studie zur administrativen Anstaltsversorgung im Kanton Bern tut.3 Für die Leserin ist in der vorliegenden Arbeit nur bedingt nachvollziehbar, in welchem Verhältnis die einzelnen Lebensgeschichten zu den jeweils im Anschluss eingehend erläuterten kontextuellen Faktoren stehen, oder anders ausgedrückt: Die Leserin muss, bedingt durch die über weite Strecken getrennte Darstellung von Fallgeschichten und Kontext, das Wechselverhältnis zwischen Individuen und Strukturen – um das es Leuenberger und Seglias, wie sie immer wieder betonen, geht – oftmals selbst rekonstruieren. Den Abschluss des Buches bilden zwei Fazitkapitel, in denen unter anderem die individuellen Folgen einer Fremdplatzierung für die Betroffenen resümiert werden. Dabei plädieren der Autor und die Autorin dafür, bei der rückblickenden Betrachtung und Bewertung der Geschehnisse nicht zu vergessen, dass sich die Lebensumstände und die gesellschaftlichen Wertvorstellungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark gewandelt haben: «Das Wohl des Kindes bedeutete zu Beginn des Untersuchungszeitraumes nicht dasselbe wie 1940 oder am Ende des 20. Jahrhunderts. Ebenso wenig können die damaligen Lebensverhältnisse und Erziehungsvorstellungen an heutigen Massstäben gemessen werden.» (S. 358) Gleichzeitig weisen Leuenberger und Seglias quellenkritisch darauf hin, dass die Erzählungen der von ihnen interviewten Personen durch die gewandelten Lebensumstände und Wertvorstellungen beeinflusst seien. Solche Hinweise und der insgesamt sehr differenzierte Umgang mit der brisanten Thematik Fremdplatzierung sind es, welche die Studie besonders auszeichnen.

Marco Leuenberger und Loretta Seglias legen eine lesenswerte und sorgsam erarbeitete Studie zur Geschichte der Fremdplatzierung in der Schweiz vor, in der zwar die Verbindungen zwischen Fallgeschichten und Kontext deutlicher aufgezeigt werden dürften, die aber alles in allem durch ihre differenzierte Betrachtung der Thematik überzeugt.

1 Vgl. den Initiativtext auf der Webseite zur sogenannten Wiedergutmachungsinitiative, http://www.wiedergutmachung.ch/initiative.
2 Bösl, Elsbeth: Was ist Disability History? Zur Geschichte und Historiographie von Behinderung. In: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld 2010, 29 – 43, hier 37– 39.
3 Rietmann, Tanja: «Liederlich» und «arbeitsscheu». Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884 –1981). Zürich 2013.

Zitierweise:
Michèle Hofmann: Leuenberger, Marco/Seglias, Loretta: Geprägt fürs Leben. Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2015. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 50-52.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 78 Nr. 4, 2016, S. 50-52.

Weitere Informationen